Sunday, February 18, 2007

Clichékulisse

Ach, wie hat es der Mensch doch schwer. Besonders der Untermensch - ähm, ich meine natürlich: der Untergrundmensch. Dieser hat viele Namen, viele Verkleidungen und viele Gesichter. Ich meine aber einen ganz bestimmten, gewissermaßen eine Unterart des gemeinen Untergrundmenschen, nämlich unseren geliebten, allwöchentlich Samstagabend in diesen schönen Hallen ein- und ausgehenden GRUFTI.

Viele werden das Wort vielleicht gar nicht mehr kennen, da es im Laufe der Jahre durch Begriffe wie „Gothic“ oder "Schwarz" ersetzt wurde und heute eher im abschätzigen Sinne oder mit einem "Erinnerung an die gute alte Zeit"-Lächeln auf den Lippen gebraucht wird. Auch gibt es eine Reihe von alten und neuen Umschreibungen, sei es Batcaver, Schwarzromantiker oder gar, der Herrn von Asters Kopf entsprungene, unübertroffene und durchaus liebevolle Begriff „Kellerlemming“.

Das Buch meines verehrten Freundes Tom Manegold, mit dem Titel "Ich war ein Grufti", hat mich in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Habe ich doch das, was er dort unter autobiographischen Gesichtspunkten anführt, gar nicht miterlebt. Genaugenommen bin ich also nur in den Genuss des Abgesangs einer Szene gekommen, die immer noch auf der Suche nach dem eigenen Sinn ist.

Ich habe mich im Zuge meiner selbstreflektiven Sinnkrise also auch auf jene Suche begeben, denn schließlich bin ich ja auch einer von diesen Gruftis. (Und glaubt mir, diejenigen, die nicht so aussehen sind die Allerschlimmsten) Ich gebe das zwar nur ungern zu, aber unbestreitbar habe ich einen nicht unerheblichen Teil meiner Wochenendfreizeit in Discos verbracht, die man hierzulande "Gruftschuppen" nennt.

"Wer ist er, DER GRUFTI, oder meinetwegen auch "Gothic", was stellt er dar, wo ist die Substanz seiner vielgelobten "schwarzen Szene"?" fragte ich mich also. Und ich kam zu einer zwar nicht überraschenden, aber doch ernüchternden Erkenntnis: "NICHTS!". Da ist nichts. Nichts, was dieser Szene oder den Menschen, die sie darstellen gemein oder gar eigen wäre. Der Grufti bewegt sich allgemein oder überhaupt ausschließlich in einer Clichékulisse.

Man kann ja nun nicht behaupten, dass er nicht existieren würde. Dafür hüpft er mir nur zu penetrant ständig quer durchs Bild und erschöpft sich dabei in Selbstdarstellung, dass es eine wahre Freude ist. Diese Selbstdarstellung jedoch ist alles andere als echt oder gar wahrhaftig. Es ist alles nur geklaut- Vom Schottenrock bis zum Brustwarzenpiercing!

So wagte ich mich nun, auf Basis dieser Erkenntnis, an eine Stoffsammlung heran und führte zusammen mit mir lieben Menschen, die allesamt eine beachtliche Anzahl an Dienstjahren in der Szene aufweisen können, ein Brainstorming durch. Alles um die Clichés zur ergründen, die sich die Gruftis seit Anbeginn ihrer Zeit ausleihen, um damit zu kokettieren.

Auf der Liste findet sich die unglaubliche Anzahl von zwanzig Einflüssen, von denen kein einziger auch nur im Entferntesten der Erfindung der Gruftis zuzuschreiben wäre, was eine gewisse Originalität und damit Rechtfertigung der kreativen Existenz der Gothics beweisen würde.

Natürlich erweist sich die Szene beim Aufgreifen, Assimilieren und Vermarkten aller Aspekte dieser Clichés als recht einfallsreich und erfinderisch. Auch im Weiterführen dieser Einflüsse, nachdem der eigentliche Ursprung längst nicht mehr existiert, oder zugunsten der schwarzen Szene eingegliedert wurde, zeigt diese eine Meisterschaft, die ihresgleichen sucht.

Zu allererst sind da natürlich die direkten Traditionen der Nacht, des Dunklen und des scheinbar Mysteriösen, die ich einmal „A-Typen“ nennen möchte: Der Tod und das Morbide, dann Satanismus und antichristlich- atheistische Geisteshaltung, der Vampirismus und alles Geisterhafte bzw. Untote. Hier stehen und standen in erster Linie Horror & Vampirfilme Pate. Das führt mich dann direkt zu diversen Einflüssen aus dem Fantasy-Bereich, dem Mittelalter und dann auch zu Romantik, Viktorianischem und Gründerzeit, wobei mangels geschichtlichem Verständnis gern alles, was älter als 100 Jahre ist, in den großen Mittelaltertopf geworfen wird, auch die namensgebende Gotik.

Nicht vergessen werden dürfen natürlich die eigentlichen epochalen musikalischen Ursprünge in den 70er/80er Jahren mit Punk, Wave und der Erfindung der elektronischen Musik. Die synthetische Musikerzeugung brachte den EBM, dann Techno- und Trance in Gothic-Gefilde, wobei diese Musiken bereits zu den „B- Typen“ gehören, zu Einflüssen, die mit den Ursprüngen schon nichts mehr zu tun haben.

Ebenso das Fantasy- Genre, welches auch einen Bezug zu Kelten und Germanen herstellt. Das Mystische schöpft aus dem ewigen Quell der Esoterik, des Schamanismus, der Naturreligion und der Spiritualität allgemein. Dem gegensätzlich gibt es einen nicht unerheblichen Einfluß von Uniform- Fetischismus und Military Style, der wiederum der Fetisch und BDSM Szene entlehnt wurde. Dazu gehört dann auch der sogenannte Lolita- bzw. Anime/Manga-Style. (Ihr wißt schon- kindliche, dünne Mädchen mit kleinen Köpfen, großen Augen und riesigen Brüsten.) Der Hang zum Tod gebiert dann auch das Kokettieren mit Kannibalismus, Nekrophilie und Nekromantie. Wohlbemerkt, das Kokettieren, denn auch die meisten Gruftis ekeln sich vor madigem Fleisch und wären Veganer, wenn sie sich ihre Schweine selbst schlachten müßten.

Um die Liste noch mit einigen "C-Typen" aufzufüllen: Alles psychisch Kranke, der sogenannte "Psycho" wird gern gesehen. (Allerdings nur der aus dem Kasperletehater. Vor echten Psychos, wie ToM haben sie dann doch alle Angst.) Aus dem Punk entstanden, neben dem Wave und Batcave, auch HardRock und HeavyMetal mit denen der gemeine Grufti gerne zusammen firmiert. Auch die 20er, 30er und 40er Jahre der europäischen Geschichte werden nicht ausgelassen. Und "Ethno" ist sowieso in, warum also nicht auch bei den Gruftis.

Der neueste Trend, der mich eigentlich überhaupt erst zu dieser Betrachtung verleitete, ist das Aufgreifen des "Rockabilly". Jener Ästhetik, die seit einigen Jahren auch in Deutschland eine Wiederbelebung erfährt. Diese Theorie beweisen nicht nur Besucher schwarzer Veranstaltungen, die sich mit entsprechender Kleidung, Haartracht und Accessoires schmücken, obwohl sie alles andere hören, als RocknRoll auf Ekstasy. Rockabilly Style ist plötzlich so hip , dass z.B. das Artwork rund um die neue Platte und Tour der Band Combichrist danach aussieht, obwohl diese Band musikalisch überhaupt nichts damit zu tun hat.

Und prompt greift auch "der Dieter Bohlen der Gruftis" Chris Pohl dieses vom amerikanisch- Südstaatlichem inspirierte Design auf und bedruckt Flyer mit eben dieser Symbolik. Überhaupt ist dieser Mensch nicht ganz unerheblich für die Einverleibung von vielen modischen Einflüssen verantwortlich und damit der gehasst/verdammt/vergötterte Trendsetter. (Chris Pohl hat bestimmt unter anderem Namen eine Kontaktlinsenfirma und einen Eckzahn- Mailorder am Laufen)

Das Ganze ist natürlich weder ungewöhnlich noch aufregenswert, da so ziemlich jede Mode und jede Popkultur alle möglichen Einflüsse assimiliert. Faszinierend ist jedoch, dass der Grufti allgemein behauptet, er würde diesen alten Traditionen direkt entspringen und sie hochhalten, und das, obwohl er sich in Wahrheit meist gar nicht mit den Inhalten und den Stereotypen der urprünglichen Clichés identifizieren kann.

Kein Grufti trinkt Menschenblut, opfert seine Katze, verhaut seine Freundin weil dieser das Spaß macht. Die meisten Gruftis bevorzugen, wie der gemeine Durchschnittsgermane, die monogame, stille Zweisamkeit auf Zeit. Kein Grufti hört alte Elvis Platten auf 45 Umdrehungen und er hört Johnny Cash nur, weil der tot ist. Ein Grufti ist nicht arbeitslos aus Überzeugung, oder gar passionierter Bestatter ... jedenfalls nicht weil er Grufti ist. Vielleicht, wenn überhaupt, ist er Grufti, weil er ein paar ungewöhnliche Dinge tut oder ein paar seltene Macken hat- und weil diese Szene so tolerant, aufgeschlossen und unselbstkritisch ist, dass er sich dort völlig bedenkenlos wie zuhause fühlen kann.

So ist nun doch "der Grufti" das größte Cliché überhaupt und noch dazu eines, das es eigentlich gar nicht gibt!

P.S.: Einige behaupten immer wieder, es sei die "melancholische Grundstimmung", die alle Gruftis vereinen würde. Das möchte ich aber auch nicht ganz glauben, denn stellt euch vor: Ich habe sogar schon Gruftis lachen sehen. Und das auch außerhalb des vielzitierten, sprichwörtlichen Kellers.

No comments: